Judith N. Klein

Rückkehr nach Lindeira
Von vergangener Zukunft und gegenwärtiger Vergangenheit
in Portugal
ISBN  978-3-920591-87-2      10,-

 

Bestelladresse: neues-literaturkontor@t-online.de

 

 

Die Absicht, dreißig Jahre nach einem ersten Besuch  in Nordportugal dorthin zurückzukehren, weckt Erinnerungen. Eine vergangene Welt wird wieder lebendig: das um 1970 noch mittelalterlich anmutende Weingut Lindeira. Seltsame Bilder brechen in die Gegenwart ein und lösen erneut Staunen aus: mit blauen Trauben behängte Weinbäume, in denen weiße Gestalten beweglich wie Affen herumklettern und fordernde Rufe ausstoßen...

 

Schon vor Beginn der `Wiederholungsreise´ drängt sich immer wieder die Frage auf, wie die alten Erinnerungsbilder und die neuen Wahrnehmungen wohl aufeinander wirken werden. Tatsächlich tritt eine modernisierte Welt vor Augen: Die Veränderungen Europas seit der industriellen Revolution sind in Nordportugal in wenigen Jahrzehnten `nachgeholt´ worden. Doch die alte Welt überlebt auf charmant listige Weise in den Wohnsitten, in den Festtagsbräuchen, in der Landschaft und ... in uneingelösten Träumen.

 

Judith N. Klein lebt als Übersetzerin  und  Publizistin in Paris und Osnabrück. Von ihr stammt unter anderem Die  Übersetzerinnen  oder `... weil es in Deutschland keine Lamas gibt´ - `traumverlorene Geschichten vor dem einen allmächtigen Hintergrund der Schoah´

(Die Literarische Welt).

 

*

 

Leseprobe


 

14. Oktober 1970

Nahe bei Lindeira ist der Weg kein Weg mehr: Ziel und Ordnung sind ihm abhanden gekommen. Im Weg, der kein Weg mehr ist, steht die Zeit still. Dieser Nicht-Weg weigert sich, Straße, Auffahrt, Zufahrt zu sein. Tief sind seine Zerklüftungen. Er ist jedoch nicht rauh und bitter, sondern mild und süß. Dichtes Gebüsch schützt ihn. Doch dann tut sich ein Panorama auf, das gemalt zu sein scheint: Ockerfarbige Granitsteinhäuser und graugrüne Granitsteinfelsen lagern am Hang, dazwischen die Eukalyptusbäume mit blau-grau-grün gescheckten Stämmen und silbrig glänzendem Laub, das die Sonne nicht am Durchscheinen hindert.

   Wundersam in dieser Harmonie erscheinen dem Ankömmling die über und über mit blauen Trauben behängten hohen weidenähnlichen Bäume, die die Wege und Felder säumen. – Ich sehe seltsame Gestalten wie Affen in diesen Bäumen hängen. Es sind die Traubenpflücker, ausschließlich Männer, die auf fast senkrecht an die Stämme und Äste gelehnten, zehn bis elf Meter hohen Leitern stehen. Die Seitenleisten der Leitern sind so fein und schmal, ihre Sprossen liegen so weit auseinander, daß sie im Gewirr aus Ästen und Weinranken fast unsichtbar sind. In den Leitern ist die Schlankheit der Eukalyptusbäume zu erkennen.

  Und dann höre ich den fordernden Ruf: „Torna, torna, torna...“, komm zurück, komm zurück, komm zurück – ein Ruf, der durch Wiederholung wirkt. Mit „torna, torna, torna“ sind die Mädchen und Frauen gemeint, die mit den großen, in der Kelter ausgeleerten Körben zurückkommen sollen. Sobald sie dann zurückgekehrt sind, werden die kleinen Körbe, in die  – hoch oben auf den Leitern – die gepflückten Trauben gelegt wurden, an Kordeln heruntergelassen und in die großen Körbe geleert; und bald geht wieder der Reigen los: „Torna, torna, torna...“.

Das waren die ersten Worte, die ich in Lindeira vernahm – nicht Wörter, sondern Beschwörung, tiefer und mehrdeutiger als Worte: Klang aus ihnen nicht auch die Sehnsucht nach den Mädchen, die Hoffnung, die Mädchen möchten immer, überall, schnellstens „da sein“? Es waren Laute, deren Sinn erst allmählich entstand, im Wahrnehmen der Gegenstände und Gesten, im Erleben. Wie für das kleine Kind Wort und Ding einander erhellen, so waren für mich damals die Dinge und Ereignisse Schlüssel zu den Wörtern der neuen Sprache und die Wörter Schlüssel zu den Ereignissen. Die „Motiviertheit der Sprache“ wird gewöhnlich eingeschränkt auf onomatopoetische Ausdrücke oder – als Motiviertheit zweiten Grades – auf idiomatische Redewendungen. Doch mir, die ich weder Sprache noch Land kannte, erschien die neue Sprache zunächst durchaus „motiviert“. Manche Wörter schienen geradezu die „emotionale Essenz“ der neuen Realität auszudrücken: Das „torna, torna, torna“ höre ich noch immer – ein Ruf, der in sich Wiederholung ist und den die Sehnsucht ewig wiederholt.


  Home            Prosa im Neuen Literaturkontor       

Reise-Feuilletons im Neuen Literaturkontor

 

 

 

 

 

Neues Literaturkontor